Es ist Samstag, der 18. Dezember 2020, 20:00. Eigentlich wäre ich jetzt bei meinem traditionellen metallischen Jahresausklang beim Knockout Festival in Karlsruhe und würde mir dort wie jedes Jahr nochmals die Ohren vor den Festtagen “ freispülen“ lassen. Daraus wurde ja dieses Jahr leider nichts.
Gott sei Dank gabt es aber ein nicht minder interessantes Alternativprogramm, wenn auch nur auf dem Bildschirm im Wohnzimmer. Das TRANS-SIBERIAN ORCHESTRA, kurz TSO genannt, boten seit 2:00 in der Früh ihren Livestream als Video on Demand an. Normalerweise sind TSO ja jedes Jahr im Herbst bis ins neue Jahr hinein auf großer USA-Wintertour unterwegs und spielen dort mit zwei vollwertigen Bandablegern jeweils bis zu 4 Shows am Tag. Doch auch für Sie ist dieses Jahr etwas Besonderes und so mussten alle Liveauftritte komplett auf Eis gelegt werden. Stattdessen blieb nur die Möglichkeit einen exklusiven Livestream anzubieten. Dies hat natürlich für uns Europäer der Vorteil, auch mal gleichberechtigt zu den Amis einen TSO– Auftritt anschauen zu können.
Bislang habe ich persönlich TSO vier mal Live gesehen, allerdings immer ohne das Weihnachtsthema und statt dessen mit ihrer etwas härteren Seite im Rahmen der Europatouren 2011 und 2014 zu den beiden Veröffentlichungen „Beethovens Last Night“ und „Night Castle“ sowie beim W.O.A. 2015, bei denen mehr die Wurzeln der Band, sprich die Vorgängerband SAVATAGE zum Tragen kam.
So war ich auf meinen ersten Christmas-Auftritt von TSO gespannt, denn es wurde bei meinen besuchten Konzerten bislang immer eine Riesenshow geboten.
Also hieß es am Samstag Kaminofen an, Glühwein auf den Tisch, dazu die Lebkuchen aus der Weihnachtstüte vom Chef und natürlich den TSO-Hoddie von der Night Castles-Tour anziehen, denn etwas Weihnachtsdekoration muss ja schon sein.
Zunächst gab es zur Einstimmung eine knapp 30 minütige Countdown- Preshow, mit ein paar Eindrücken zur Show, Backstagebildern, Infos von Al Pitrelli zur Show und auch ein Interview mit dem leider schon verstorbenen Mastermind von TSO, Paul O´Neil (R.I.P.) vom W.O.A. 2015.
Des Weiteren hatten einige der heute nicht zum Lineup gehörenden Musiker die Möglichkeit, ihre ganz persönlichen Weihnachtsgrüße an ihre Fans zu richteten. Doch auch musikalisch bot der Trailer einen Leckerbissen in Form des Songs „The Mountain“ vom „Night Castle“-Album in einer Liveversion von 2011, bei dem man einen Eindruck bekommt, welch gigantische Show TSO bei Ihren Liveshows normalerweise bietet.
Doch dann ging endlich das eigentliche Spektakel los. Den Anfang machte ein computeranimierten Flug durch die Straßen einer Großstadt, im Hintergrund die Erzählstimme von Bryan Hicks, der den Zuhörer/Zuschauer wie auch schon bei den von mir besuchten Live-Konzerten die nächsten knapp 90 Minuten als Erzähler durch die Weihnachtsgeschichte des Debutalbums „Last Christmas and other Storys“ begleitete.
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Den musikalischen Einstieg macht der Eröffnungssongs „An Angel came down“ wie auch auf dem Debutalbum, bei dem John Brink die Vocals übernimmt. Elegant im Frack gekleidet, von Keyboardklängen, Gitarren und Violine eingerahmt, singt er von der Ankunft des Engels auf der Erde, ehe man fließend in den Weihnachtsklassiker „Silent Night“ überleitet, so als ob die beiden Songs schon immer so zusammen gehörten.
Es folgt eine aufwendig inszenierte Show mit jeder Menge Lichteffekten und Lasern sowie jede Menge weihnachtliche Klänge, aber meist gepaart mit der nötigen Portion Stromgitarre. Stellvertretend hierfür übernimmt dann Maestro Al Pitrelli das Zepter in die Hand und steht beim Instrumental „O Come All Ye Faithful/ O Holy Night“ ganz im Mittelpunkt. Sehr gefühlvoll mit der nötigen Härte verschmelzen die klassischen Weihnachtsklänge mit den Savatage-artigen Gitarrenriffs.
Neben den verschiedenen Sängern/innen, die sich später noch am Mikro abwechseln, besteht das heutige Lineup der Band neben Al Pitrelli aus den SAVATAGE-Mitgliedern Chris Caffery, Johnny Lee Middleton und Jeff Plate, am Keyboard Derek Wieland und Keyboarderin Mee Eun Kim sowie der Violinistin Asha Mevlana. Alle Musiker sind bestens aufgelegt und man spürt deutlich ihre Freude, endlich wieder Live zusammen spielen zu dürfen.
Dann wird es soulig. Die dunkelhäutige Erica Jerry zelebriert nur vom Keyboard begleitet leidenschaftlich „The Prince of Peace“. Dieses Stück kann mich jedoch nicht ganz begeistern, für mich der schwächste Song des Abends, passt er doch musikalisch nicht ganz zum Rest des Programms.
Dann darf wieder Storyteller Bryan Hicks ran, bevor beim folgenden Instrumental „First Snow“ dann wieder Fahrt aufgenommen wird. Auf der Bühne beginnt es ganz dem Titel entsprechend zu schneien. Wabernder Nebel am Boden, Schneeflocken taumeln zu Boden, Chris und Al hauen in ihre Saiten an und dazwischen rockt Asha Mevlana auf ihrer futuristischen E-Violine inmitten eines Lasergewitters, welches Jeff Plate im Hintergrund auf seinem überdimensionalen Schlagzeug entsprechend musikalisch unterstützt.
Nach dem Instrumental „A Mad Russian’s Christmas“ kommt dann die Stunde aller SAVATAGE-Fans, denn mit „Christmas Eve (Sarajevo 12/24)“ folgt der wohl erfolgreichste TSO-Song, der ursprünglich schon auf dem SAVATAGE-Album „Dead Winter Dead“ von 1995 enthalten war. Hier durften die beiden Gitarren im Duett mit Asha´s Violine mal so richtig einen raushauen…grandios.
Bei mir kamen sofort Erinnerungen an den superben W.O.A. – Auftritt von 2015 hoch, als TSO und SAVATAGE eine grandiose Doppelshow auf den beiden Hauptbühnen im Infield ablieferten.
Das folgende „Good King Joy“ beginnt mit engelsähnlichen Intro der beiden blondenSängerinnen Chloe Lowery und Georgia Napolitano. Es folgt der erste Auftritt von SYMPHONY X Frontmann Russell Allen, der recht bluesig angehaucht die Weihnachtsgeschichte in Bethlehem besingt.
Im Anschluss folgte „Ornament“ mit Jeff Scott Soto am Mikro, der für mich einer der Top Sängern im Metal-Business ist. Seine teils raue, leicht vibrierende Stimme, passt hier perfekt zum Song und mit seiner unverkennbaren Stimme sorgt Jeff für das nötige Gänsehautfeeling. Einfach gigantisch. Immer wieder werden Eiszapfen von der Decke heruntergefahren und sorgen für entsprechende optische winterliche Untermalung, auch wenn manchmal Gedanken an den letzten Besuch beim Zahnarzt bei mir aufkommen.
Es folgt der ruhigste und besinnliche Teil des abends. In „Old City Bar“ spielt Al Pitrelli auf seiner Akustikgitarre im Duett mit Nate Amor, ohne Schnick-Schack im Scheinwerferlicht eines Spotlights fast im Dunkeln. Nur die Neonwerbung der Bar, dies schafft eine ganz besondere Atmosphäre und entsprechend nachdenkliche Stimmung.
Nun hat bei „Promise to Keep“ der blonde Engel Chloe ihren Solo-Auftritt. Leicht melancholisch angehaucht singt sie von der verlorenen Weihnachtszeit und Christmas Eve.
Bei diesem Song wird dann auch visuell nochmals groß aufgefahren, und die schon bei meinen besuchten Konzerten verwendeten Video-Walls mit überdimensionalen Mauern zeigen, was TSO alles bei Ihren Shows auffährt. Auch wenn auf Pyros heute gänzlich verzichtet wird (passt ja auch nicht so ganz zu Weihnachten und Kerzenschein), ist die Bühne riesig und die Bühnenshow entsprechend bombastisch, auch wenn sie im Vergleich zu den Wintertouren in Amerika nicht mithalten kann. Doch dafür wäre der finanzielle Aufwand dann wohl doch zu immens gewesen für einen einzelnen Auftritt.
Den gesanglichen Abschluss darf dann nochmals Jeff Scott Soto mit „An Angel returned“ einleiten und das Ende der Reise des Engels und damit der TSO-Weihnachtsgeschichte verkünden, bevor zum großen Final des Songs dann auch alle anderen Sänger und Sängerinnen des Abends nochmals auf die Bühne kommen, um gemeinsam das Finale zu bestreiten.
Das letzte Wort hat dann nochmals Erzähler Bryan Hicks, der bei seinem Abschlussauftritt sehr rührend und den Tränen nahe das Ende der Geschichte erzählt und allen Frohe Weihnachten wünscht.
Doch das ist Gott sei Dank noch nicht ganz das Ende der Show. Mit „Wizards in Winter“ drehen nun Al, Chris und Asha nochmals richtig auf. Das Instrumental bildet einen gekonnten Abschluss des Livestreams, bei dem nochmals gerockt wird und ein Laserfeuerwerk abgefeuert wird.
Dann ist jedoch endgültig Schluss. Es folgt der Abspann mit allen Infos zu den beteiligten Musikern und Techniker, die diesen wunderschönen besinnlichen Auftritt ermöglicht haben. Musikalisch unterlegt wir der Abspann durch die Einspielung des alten SAVATAGE -Klassikers „Believe“ mit Jon Oliva am Piano und Gesang, der bei den Liveaufnahmen leider nicht zu sehen ist.
Fazit:
Natürlich hat ein Auftritt von TSO nur bedingt mit Metalmusik zu tun und man muss schon gewillt sein, sich auch mal sanfteren und weihnachtlichen Klängen, manchmal vielleicht auch schon kitschigen Tönen und Inhalten hinzugeben.
Fans der härteren Gangart werden vielleicht die Nase rümpfen und den Musikern zu viel Kommerz vorwerfen, doch die hohen Zuschauerzahlen und der auch finanzielle Erfolg gibt der Band die Bestätigung, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen haben. Und in der Weihnachtszeit hat so ein Auftritt schon was Beruhigendes und man kann auch mal sanfte Weihnachtsklänge genießen, zumal die rockigen Klänge in Form von harten Gitarrenriffs und Schlagzeug dabei nie zu kurz kommen. Genau diese Mischung macht diese Band so interessant und erfolgreich. Nicht umsonst kommen Jahr für Jahr Millionen Zuschauer aller Altersklasse und Musikgeschmäcker zu den Megaevents in den USA gepilgert.
Denn auch wir Metalfans haben eine weiche Seite, die dann gerne mal zur Weihnachtszeit zum Vorschein kommt. Und wem das alles trotzdem zu kommerziell ist, dem bleiben ja immer noch die nichtweihnachtlichen TSO-Alben oder die SAVATAGE-Meisterwerke im Plattenschrank.
Der Livestream kann natürlich den Besuch einer Liveshow von TSO nicht ersetzen, denn die Liveshows sind nochmal eine ganz andere Hausnummer. Das sieht man bei den vielen Livevideo bei Youtube. Mir hat es trotzdem sehr gut gefallen. Daumen ganz klar nach oben
Schade nur dass sich Jon Oliva , Chris, Al und die anderen Jungs von SAVATAGE seit dem 2001er Album „Poets and Madmen“ bislang noch nicht zu weiteren Aufnahmen unter dem SAVATAGE-Banner entschließen konnten. So bleibt vorerst wohl nur, solche Hammerscheiben wie „Gutter Ballet“, „Streets“ und wie sie alle heißen, mal wieder aus dem Regal zu ziehen und sie sich in aller Ruhe zu Gemüte zu führen.
Wie die Engel jedoch von den Dächern pfeifen, sollen die Jungs ja angeblich an neuem Material arbeiten. Wie Al Pitrelli in einem Interview kürzlich bekannt gab: „Ich würde mir mehr denn je wünschen, dass die Band wieder zusammenkommt und wieder auf Tournee geht“ . Genaueres konnte er jedoch nicht verkünden. „Ich habe kein Datum, keine Stunde oder einen genauen Termin. Ich weiß nur, dass wir es alle wollen“.
Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und so habe ich diese noch nicht aufgegeben, dass der W.O.A. Auftritt doch noch irgendwann in Form einer DVD/BluRay veröffentlicht wird. Wäre zu schade, wenn man diesen Auftritt nicht allen Fans zugänglich machen würde, die dieses Spektakel damals nicht live miterleben konnten.
Abschließend bleibt zu hoffen, dass wir Jon, AL, Chris, Johnny und Jeff bald auch mal wieder in Europa begrüßen dürfen. Gerne auch mit der rockigeren Version des TRANS-SIBERIAN ORCHSTRA… oder natürlich auch gerne als SAVATAGE.
TRANS-SIBERIAN ORCHESTRA – Lineup:
Band:
Al Pitrelli Gitarre
Chris Caffery Gitarre
Johnny Lee Middleton Bass
Jeff Plate Drums
Asha Mevlana E-Violine
Derek Wieland Keyboards
Mee Eun Kim Keyboards
Vocals:
Nate Amor
John Brink
Russell Allen
Erika Jerry
Chloe Lowery
Georgia Napolitano
Jeff Scott Soto
Storyteller :
Bryan Hicks
Den vorab gezeigten Countdown könnte ihr euch noch auf Youtube anschauen:
TSO – Online:
https://www.trans-siberian.com/
Weitere Infos zu „Christmas Eve and Other Storys“ und den kürzlich wieder veröffentlichten Alben von TSO gibt’s hier:
https://www.cmm-marketing.com/r334/Christmas%20Eve%20And%20Other%20Stories%20(SAOL%20247):
All Foto-Credits by Trans-Siberain Orchestra 2020 and Jason McEachern