Als der Sänger meiner Lieblingsprogger Leprous vor einigen Monaten sein Soloalbum “16” ankündigte, war ich überglücklich. Ein weiteres Album im Leprous-Stil kann ja nur ein Gewinn sein! Doch mit gesetzten Erwartungen eine Rezension zu schreiben war noch nie eine gute Idee. Also versuchte ich der Platte in einem neutralen ersten Hördurchgang eine faire Chance zu geben, mich mitzureißen. Weitere Rotationen folgten und schlussendlich manifestierten sich meine Bewertungen der einzelnen Songs und des Albums als Gesamtwerk.
Als Leprous-Fan kann ich einen Punkt schon mal vorwegnehmen: “16” ist kein Leprous-Album. Trotzdem gibt es ein paar Lieder, die im Stil der Hauptband von Solberg geschrieben sind. Beautiful Life hat eine ähnliche Struktur wie Alleviate und nutzt alle Elemente, die auch Leprous regelmäßig nutzen und Over The Top schließt sich den bekannten Balladen Distant Bells und On Hold an. Auch Splitting The Soul mit Featuregast Ihsahn erinnert an actionreichere Werke der Norweger wie Contaminate Me (bei dem er übrigens auch Gast ist). Der Großteil des Albums jedoch ist mal weiter mal weniger weit entfernt von der Musik von Leprous und das ist auch gut so.
Einar Solberg experimentiert viel mit verschiedenen Stilrichtungen und Instrumentierungen. Während im Titelsong und Opener 16 fast ausschließlich seine Stimme und Streicher zu hören sind (angeführt vom Cello des brillanten Raphael Weinroth-Browne), übernehmen in Remember Me erst computergenerierte Beats mit Synths und später die für das Soloprojekt zusammengestellte Rockband das Ruder. Insgesamt kann man das Album nicht wirklich in ein bestimmtes Genre einordnen. Ein großes Hauptelement stellen die Streicher und andere orchestralen Instrumente wie Blechbläser dar, die in nahezu allen großen Augenblicken von “16” eine tragende Rolle spielen.
Einige Featuregäste habe ich bereits genannt, aber der Vollständigkeit halber werde ich den Rest noch ergänzen: Auf dem melodramatischen Where All The Twigs Broke hilft Solbergs Schwester Starofash aus, Ben Levin rappt im Hamilton-Stil auf dem jazzigen Home, Vola-Sänger Asger Mygind verleiht dem ruhigen Blue Light seine einzigartige Stimme, Magnus Børmark singt bei Grotto mit und Tóti Guðnason von Agent Fresco ist beim Rausschmeißer The Glass Is Empty vertreten. Eine ganze Menge Köche die, wenn man dem Sprichwort glauben darf, auch den Brei verderben können. Solberg setzt seine Gäste unterschiedlich gut auf dem Album ein, was man besonders beim Vergleich von Home und Blue Light bemerkt. Während Mygind und Solberg sich in letzterem gegenseitig ergänzen und ein schönes Duett abliefern, ist Ben Levins Feature auf Home irgendwie deplatziert. Der überraschende Rap-Part scheint nur dazu da zu sein um einen überraschenden Rap-Part zu haben und interagiert auch nicht wirklich mit Solbergs exzentrischem Gesang – meiner Meinung nach eine verpasste Chance.
“16” beinhaltet neben den vielen Features und Experimenten aber auch das gewohnte Songwriting von Solberg. Über die Länge des jeweiligen Songs wird oftmals ein Spannungsbogen aufgebaut der sich dann in einem Ausbruch der Emotionen entlädt. Das funktioniert besonders gut in Songs wie Splitting The Soul, Over The Top oder Remember Me. Manche Tracks haben jedoch diesen Spannungsbogen, aber absolut keinen Höhepunkt. Rausschmeißer The Glass Is Empty ist ein besonders frustrierendes Beispiel hierfür. Die ersten fünf Minuten des Lieds klingen nach einem epischen Finale – Riffs werden abgefeuert, das Orchester darf sich entfalten und ein Chor rundet das cinematische Ergebnis ab. Doch die zweite Hälfte des Tracks klingt wie ein fünfminütiger Build-up, der dann einfach aufhört. Als hätte man zwei Stunden lang einen Drei-Gänge-Menü gekocht nur um es dann kurz vor der Fertigstellung in die Tonne zu werfen. Mit einem ordentlichen Payoff wäre The Glass Is Empty zu 100% mein Lieblingssong des Albums gewesen, aber ohne gibt es leider Minuspunkte. An anderen Stellen sind die Payoffs einfach zu schwach um die Länge der Songs zu rechtfertigen. Der Opener hat mit siebeneinhalb Minuten eine Überlänge, die fast ausschließlich mit Streichern und ein wenig Schlagzeug gefüllt ist, Metacognitive dümpelt in seinem gleichförmigen Rhythmus fünf Minuten lang dahin und auch Blue Light mit Asger Mygind bleibt zu lange zu ruhig.
Die Lichtblicke auf “16” sind trotz umfangreicher Kritikpunkte klar und deutlich zu hören: Solbergs Stimme ist immer wieder ein Ohrenschmaus, die instrumentale Arbeit ist größtenteils wunderbar und die Abmischung ist klar und differenziert. Die Qualität der Performances ist da, aber das Songwriting schwankt hin und her zwischen erstklassig (Over The Top), fade (Grotto) und fragwürdig (die letzten fünf Minuten von The Glass Is Empty).
Fazit: Alles in allem glaube ich nicht, dass “16” für mich als Publikum geschrieben wurde. Das Album ist ein großes, kollaboratives Experiment, das Einar Solbergs Lebenserfahrungen musikalisch verarbeitet – mehr Publikum als den Künstler selbst braucht es nicht. Absoluten Einar Solberg-Fans wird das Album sicherlich gefallen und auch neue Hörer werden sich ein paar Edelsteine aus “16” herauspicken können, aber als Gesamtwerk schwankt mir die Qualität der Platte zu stark. Naja, vielleicht hat sich Solberg die größten Banger ja für das nächste Leprous-Album aufgehoben.
Von mir gibts dafür 5 von 10 Bängs.
“16” erscheint am 2. Juni via Inside Out Music und ist als CD, LP und digitaler Download erhältlich.
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